Interview mit Carolina Böhm
Genderfragen im Flüchtlingskontext

boehmCarolina Böhm ist Gleichstellungs­beauftragte des Bezirksamtes Charlottenburg in Berlin. Regelmäßig besucht sie auch Flüchtlings­unterkünfte und andere Einrichtungen. So verschafft sie sich einen Eindruck, wie sich das Ankommen von Männern und Frauen in Deutschland gestaltet und welche Handlungsbedarfe bestehen.

Welchen Genderthemen begegnen Sie, wenn Sie in Ihrer Funktion als Gleichstellungsbeauftragte Flüchtlingseinrichtungen besuchen?

Lange Zeit waren wir im Wesentlichen mit den Basics befasst und haben versucht, überhaupt einen Überblick über die Zustände in den Flüchtlingseinrichtungen zu erhalten. Sind die sanitären Einrichtungen ausreichend, die Waschgelegenheiten – auch für die persönliche Wäsche – die Verpflegung? Oft sind die Angebote jedoch so begrenzt, dass eine Trennung der Angebote nach Geschlechtern nicht gewährleistet werden kann. (Haben Sie eine Statistik über die Männer und Frauen in Ihrem Bezirk? Was hat sich daran geändert? Wie würden Sie dies jetzt sehen? Was konkret hat sich verbessert?)

Gleiches gilt für die so wichtigen Rückzugsräume. Leider müssen wir immer wieder feststellen, dass diese nach wie vor fehlen und wenn sie denn vorhanden sind, zumeist nicht geschlechtsspezifisch vorgehalten werden. (Hat sich dies durch die zusehends knapper werdenden Unterbringungsmöglichkeiten weiter verschärft?)

Viele der Frauen, die in Deutschland ankommen, sind traumatisiert und bräuchten vermehrten Schutz und eine gesicherte Privatsphäre. Stattdessen finden sie vielfach nicht-abschließbare Türen, männliches Wachpersonal und nicht-geschlechtergetrennte Wasch- und Schlafräume vor. Dies ist ein großes Problem, das dringend gelöst werden müsste.

Wie können Sie in dieser Situation helfen?

Ich biete ganz konkrete Hilfe an und vermittle an Fachleute weiter, etwa wenn es zu sexuelleln Übergriffen oder zu häuslicher Gewalt kommt, was wir gerade in den teilweise sehr vollen Unterkünften leider nicht ausschließen können.

Wie sehen Ihre Forderungen an die Politik aus?

Außerdem haben wir uns als kommunale Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte während der diesjährigen Bundeskonferenz Anfang September in Warnemünde mit dem Thema Frauen auf der Flucht befasst. Ergebnis war ein Maßnahmenkatalog, der umgehend umgesetzt werden müsste. So werden dringend psychotherapeutische Hilfsangebote für durch sexuelle Gewalt traumatisierte Frauen und Kinder benötigt, des Weiteren Schulungen für Betreuungspersonen in den Erstaufnahmestellen und Unterkünften, weibliche Ansprechpartnerinnen und Dolmetscherinnen, abschließbare und geschlechtergetrennte Räume und Sanitäranlagen, Wohnraum für alleinreisende Frauen mit Kindern, niederschwellige gesundheitliche Versorgung.

Häufig wird die Notwendigkeit für diese Maßnahmen jedoch noch nicht gesehen, erscheint die Zuwendung zu den spezifischen Bedürfnissen von Frauen angesichts der grundlegenden Schwierigkeiten, die Flüchtlinge überhaupt unterzubringen, als Luxusfrage. Der physische und psychische Schutz von Frauen und Mädchen, die bei uns ankommen, ist jedoch zivilgesellschaftliche Notwendigkeit, denn Frauenrechte sind Menschenrechte.

In den Flüchtlingseinrichtungen werden ehrenamtlich Freizeitangebote organisiert. Gibt es hier Genderthemen, die Ihrer Erfahrung nach noch zu wenig berücksichtigt werden?

Die Freizeitangebote sollten nach Möglichkeit natürlich allen zugutekommen. Vielfach ist zumindest in einigen Herkunftsländern das Freizeitverhalten noch sehr viel stärker nach Geschlechtern segregiert als wir dies hier in Deutschland kennen. So ist es zum Beispiel nicht überall selbstverständlich, dass Frauen und Mädchen Fahrrad fahren (dürfen). Das kann aber, wenn dies nicht entsprechend mit bedacht wird, zu neuen Problemen führen.

So wurden zum Beispiel für eine Flüchtlingsunterkunft Fahrräder gesammelt, da einer der Bewohner Fertigkeiten zur Reparatur mitbrachte. Einmal repariert, sollten die Räder in der Einrichtung zum Gebrauch verbleiben. Nun war aber der Wunsch einiger Frauen und Mädchen groß, sich auch einmal im Radfahren auszuprobieren. In diesen Situationen geht es darum, die Fahrräder nicht nur zur Verfügung zu stellen, sondern Frauen und Mädchen Unterstützung anzubieten, um überhaupt erstmal Fahrradfahren zu lernen. Es muss sichergestellt werden, dass Frauen und Mädchen überhaupt Fahrräder bekommen, oder um ein anderes Beispiel zu nennen, dass auch Frauen und Mädchen an Sport- bzw. Schwimmkursen beteiligt werden. Es gibt noch viel zu lernen. Kurzum, es geht um Sensibilität auf allen Ebenen.

Wenn man die Medienbilder der letzten Wochen Revue passieren lässt, entsteht der Eindruck, dass Flucht männlich, Hilfe weiblich ist. Wie stellt sich dies für Sie dar?

Aktuell, mit Stand 07.01.2016, sind in Berlin fast 43.000 Flüchtlinge untergebracht. Täglich kommen im Schnitt knapp 220 Flüchtlinge hinzu. Insgesamt sind auch in Berlin, wie im gesamten Bundesgebiet, mehr männliche Flüchtlinge angekommen als weibliche. Die Hintergründe sind bekannt, oftmals werden die jungen Männer vorgeschickt, sie sind vom Militärdienst bedroht und die Fluchtrouten sind gefährlich und strapaziös. Darüber hinaus ist bekannt, dass Frauen, wenn sie fliehen, oft zunächst in die Nachbarländer ziehen, in der Regel aus Mangel an Geldressourcen und auch in der Hoffnung, mit den Kindern bald in die Heimat zurückzukehren.

Zu den Unterstützenden ist zu sagen, dass sich dies hier in Berlin die Waage hält, Hilfe ist in Berlin nicht vordergründig weiblich.

Welche Herausforderungen sehen Sie zum Thema Gender oder Gleichstellung im Flüchtlingskontext und in der Frage der Integration von Flüchtlingen auf die Kommunen zukommen?

Ich möchte betonen, dass es Herausforderungen und Chancen zugleich sind. Wir wissen, dass in manchen Kommunen ein Bevölkerungsschwund zu verzeichnen ist, welcher für die Kommunen problematisch ist. Wenn wir es also schaffen, eine Willkommenskultur in allen Landesteilen zu entwickeln, kann eine Neuansiedlung von jungen Menschen mit neuen Ideen für den Standort Deutschland durchaus ein Gewinn sein. Dazu muss die vorhandene Infrastruktur geprüft und geklärt werden, wo vielleicht neues Wachstum benötigt wird (Schulen/Kitas/Verkehr/Schwimmbäder etc.). Zur Integration gehört an erster Stelle Bildung für alle, die hier ankommen. Wir dürfen nicht die Fehler der ersten Arbeitsmigration wiederholen und die Familienmütter, die hier ankommenden Frauen vergessen. Sie sind entscheidend für die Sozialisation des Nachwuchses, daher müssen genügend Deutschkurse für alle bereit stehen.

Aber zur Integration gehört auch die Vermittlung unseres Wertesystems, und es wäre naiv zu denken, dass die Gleichberechtigung von Männern und Frauen in allen Herkunftsländern so selbstverständlich ist, wie wir es hier zum Glück erreicht haben. (könnten wir hier einen Bezug zum Geschehen in Köln herstellen?) Das ist jedoch – auch das wissen wir aus den Erfahrungen, die wir als Einwanderungsland längst gemacht haben – keine Bedrohung, sondern eine Auseinandersetzung, die zur Willkommenskultur dazugehört.

Welche Ideen oder Vorschläge haben Sie für die Entwicklung von Gleichstellungszielen im Kontext der Flüchtlingsbewegung?

Ich halte es für essentiell wichtig, genügend Deutschkurse geschlechtsspezifisch anzubieten. Es darf keine Situation entstehen, in der Frauen daran gehindert werden, hier Deutsch zu lernen. Gleichzeitig muss das Personal im gesamten Bereich der Integration, also von der Ankunft bis hin zu den pädagogischen Angeboten, dahingehend geschult werden, dass auf Verletzungen der Gleichbehandlung der Geschlechter/respektive anderen sexuellen Orientierungen angemessen reagiert wird.

Es ist ein grundlegendes Prinzip unserer europäischen Wertegemeinschaft, dass wir niemanden auf Grund von Geschlecht, sexueller oder religiöser Orientierung oder aber Herkunft diskriminieren. Dieser Grundsatz spielt in der weiter heterogenisierten Gesellschaft eine immer größere Rolle, daher muss die Vermittlung dieser Haltung höchste Priorität erhalten.

Wird sich Ihrer Einschätzung nach die etablierte Gleichstellungspolitik mit der Integration von Geflüchteten, die einen anderen kulturellen und religiösen Hintergrund haben, verändern?

Da die Gleichstellungspolitik bislang noch nicht alle selbst gesetzten Ziele erreicht hat, besteht aus meiner Sicht keine Notwendigkeit zu Veränderungen, wir werden weiter arbeiten und tun dies gemeinsam mit allen Menschen, die zu uns kommen und die wir hier willkommen heißen.

Vielen Dank.


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