Wenn Mitarbeiter*innen pflegen

Streiflicht: Bericht eines Pflegenden

Die Pflege von Angehörigen kann Arbeitnehmer*innen vor enorme organisatorische und emotionale Herausforderungen stellen. Foto: pixabay

Manfred Schmidt* arbeitet als Organisations­koordinator in einem großen Dienstleistungs­unternehmen. Bald wird er 59, betont er, und habe nicht mehr lange im Unternehmen, in dem er seit inzwischen 30 Jahren beschäftigt ist. Seine Wochen­arbeits­zeit beläuft sich auf 39 Stunden je Woche. Zur Sicherstellung eines reibungslosen Betriebsablaufs arbeitet er in festen Arbeitszeiten und startet täglich um sechs Uhr. Seine Tätigkeit erfordert Anwesenheit vor Ort. Sofern zusätzliche Projekte anfallen, können auch Bereitschafts­dienste angeordnet werden.

Herr Schmidt ist verheiratet, Kinder hat er keine. Er selbst ist mit zwei Geschwistern aufgewachsenen. Sein Vater ist 80, seine Mutter 79 Jahre alt. Beide sind heute schwer pflegebedürftig. Mit der Krebserkrankung seiner Mutter vor einem Jahr hat sich die Frage der Versorgung beider Eltern zugespitzt. Bis dato hat sich die immer agile und gut gelaunte Mutter – so beschreibt sie Herr Schmidt mit einem Lächeln auf den Lippen – um ihren hilfebedürftigen Mann gekümmert. Sie war der Fels in der Brandung.

Vor zehn Jahren wurde bei Herrn Schmidts Vater Krebs diagnostiziert. Es folgte das volle Programm aus Bestrahlung, Chemo, Operationen, Krankenhausaufenthalten. Kontinuierlich erholte er sich in den nächsten Jahren, bis sich vor gut vier Jahren sein Zustand erneut verschlechterte und der Verdacht auf Demenz sich bestätigte. Während er sich noch sicher durch die Erinnerungen an seine Kindheit und frühen Berufsjahre bewegt, ist die Orientierung im Hier und Jetzt nicht mehr möglich. Ohne Anleitung vergisst er zu essen, zu trinken, findet er sich räumlich nicht mehr zurecht, will er aufs Dach steigen, um die Regenrinne sauber zu machen. Auf Grund des Schweregrads der Demenz hat der Medizinische Dienst den Vater in Pflegestufe 2 eingestuft. Einen Pflegedienst hat die Familie bis Ende November 2017  jedoch nicht in Anspruch genommen. Die Mutter hat die notwendige Pflege selbst übernommen, Herr Schmidt und seine Geschwister haben sich unterstützend um Garten, Haus, Heizung und Reparaturen gekümmert.

Das Setting kollabierte jedoch, als sich vor ein paar Monaten auch die Mutter einer schweren Krebsoperation unterziehen musste. Im Gespräch hatten die Ärzte ihren Gesundheitszustand sowie die Genesungschancen sehr positiv dargestellt. Umso größer war der Schock über den tatsächlichen Zustand der Mutter unmittelbar und auch noch Tage nach der Operation. Noch Wochen danach war sie nicht einmal kurfähig. Lange Zeit konnte sie weder allein zur Toilette noch sich in irgendeiner Weise selbst versorgen, von ihrem Mann ganz zu schweigen. Darüber hinaus zeigten sich bei der Mutter zusehends herausfordernde Verhaltensweisen. Inzwischen geht es der Mutter gesundheitlich wieder besser. Sie ist aber immer noch auf Unterstützung angewiesen.

In dieser Situation versuchte Herr Schmidt mit seinen Geschwistern, institutionelle Pflegeunterstützung zu beantragen. Er scheiterte jedoch an der für ihn völlig unverständlichen Einstufung der Mutter in Pflegestufe 1 sowie an der Unübersichtlichkeit der Zuständigkeiten und den verwirrenden Antragsformalitäten in Sachen Pflege(dienst)leistungen. Von den Kassen und den staatlichen Transferleistungen frustriert, zimmerte Herr Schmidt mit seinen Geschwistern zunächst ein rein innerfamiliales Pflegearrangement. Seine Schwester zog wieder ins geräumige Elternhaus ein. Sie versorgte die Eltern und übernahm gemeinsam mit ihrer Schwägerin die Arzttouren. Herr Schmidt kümmerte sich um alles Organisatorische. Er setzte sich mit Behörden und Ämtern auseinander, vereinbarte Termine, telefonierte mit Kassen, kontrollierte, fasste nach, stritt sich, formulierte Einsprüche, suchte Durchblick durch den bürokratischen Pflegedschungel zu finden. Je nach Servicezeiten und Erreichbarkeiten der Kassen und Ämter musste er hierzu oft seine Pausen nutzen. Zusätzlich telefonierte und recherchierte er aber auch nach Feierabend. Inzwischen hat die Familie auf Grundlage der Pflegestufen 1 und 2 einen Pflegedienst beauftragen können, deren Mitarbeiter*innen den Vater nun baden, bei der Körperpflege unterstützen und haushaltsnahe Dienstleistungen wie das Einkaufen übernehmen.

Da er mehr als eine Stunde von seinen Eltern entfernt wohnt, kann er nur am Wochenende vor Ort sein. Das macht er in der Regel sonntags, dann übernimmt er auch alle anfallenden Reparatur- oder Gartenarbeiten. Den Samstag verbringt er meist bei seinen Schwiegereltern, die ihrerseits zusehends mehr Unterstützung benötigen. Gemeinsam mit seinen Geschwistern will Herr Schmidt alles in seiner Macht Stehende tun, damit die Eltern in ihrem Haus beiben können, nicht in ein Pflegeheim müssen. Dass er sich mit seinen Geschwistern so gut versteht und ergänzt, trägt ihn. Zu sehen, dass die Eltern – soweit dies im Rahmen ihrer Erkrankungen möglich ist – einen guten Lebensabend verbringen, stärkt und nährt ihn. Er kann ihnen, so Herr Schmidt, etwas zurückzugeben.

Sein Betrieb hilft ihm mittels „Altersteilzeit“ und Verständnis für die Situation. Das entlastet ihn. Wenn er nicht gerade in einem Termin ist, kann er im Notfall jederzeit von der Arbeit los. Dass sein Betrieb auch eine eigene Anlaufstelle für pflegende Beschäftigte anbietet, war ihm zwar grundsätzlich bekannt, aber in der konkreten Situation war er sich dessen nicht mehr bewusst. Er war, so führt Herr Schmidt aus, nach den negativen Erfahrungen mit den Kassen und Diensten, mit seinen Geschwistern nur noch auf die Selbsthilfe fokussiert. In circa eineinhalb Jahren hofft er, unter Nutzung seines „Lebensarbeitszeitkontos“ vorzeitig in Ruhestand gehen zu können. Die Aussicht auf diese Möglichkeit beruhigt ihn, die herausfordernde Vereinbarkeit von Beruf und Pflege erscheint ihm damit endlich.

Als größte Herausforderung beschreibt Herr Schmidt die emotionale und organisatorische Überforderung, die der plötzliche Eintritt einer schweren Pflegebedürftigkeit mit sich bringt. Die Unübersichtlichkeit von Zuständigkeiten, Dienstleistungen und Ansprüchen lässt die Herausforderungen weiter wachsen, verstärkt erheblich den pflegebedingten Stress und die Ermüdung. Hier wünscht sich Herr Schmidt dringend Abhilfe, etwa in Form einer zentralen, kompetenten und unabhängigen Anlaufstelle. Am liebsten bereits im Krankenhaus.

*) Name geändert

 


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