Stephanie Shirleys Schul- und Berufsbiografie ist von Anfang an von der Erfahrung geschlechterungleicher Rollenvorstellungen geprägt. Mit ihrem besonderen Interesse an Mathematik und Informatik eckt sie früh an, findet in ihrem Ehemann Derek Shirley jedoch einen wohlmeinenden Mentor.
Ihren ersten Job hat sie im Zukunftslabor der Post, dort lernt sie Derek kennen. Sie ist gut, kommt beruflich aber nur langsam voran. Als die Shirleys heiraten, ist sie „research officer“, er „experimental officer“. Mit Blick auf die erwartbaren Tuscheleien beschließt Stephanie zu kündigen, findet aber bei Computer Development Limited (CDL) bald eine neue Tätigkeit. Sie ist zuständig für Computerentwicklung und mag das Arbeitsklima und die informelle Arbeitsatmosphäre. Die Arbeit geht ihr leicht vor der Hand, füllt sie aber nicht aus. Über die Technik hinaus beginnt sie sich für Vertriebsfragen und Softwareentwicklung zu interessieren. Als sie ihrem Arbeitgeber entsprechende Vorschläge unterbreitet, lässt er sie abblitzen. Sie würde ihre Zuständigkeit überschreiten.
Dieser Vorfall zusammen mit dem generellen Unbehagen der jungen Mathematikerin in einer fast ausschließlich männlich geprägten Arbeitsumgebung veranlasst sie, erneut zu kündigen. Sie lässt sich von ihrer Vision einer kommerziellen Entwicklung und Vermarktung von Software leiten. 1962 gründet die gerade mal Dreißigjährige allen Widerständen zum Trotz ihre eigene IT-Programmierfirma, die Freelance Programmers, später F. International Group. 2014 erzählt sie rückblickend in einem Interview: „Ich wurde ausgelacht, weil ich eine Frau war und Software verkaufen wollte.“ [1]
Intern jedoch verfolgt Stephanie Shirley ein Unternehmenskonzept, das die überlieferte männlich dominierte Arbeitsorganisation überwinden und Frauenerwerbstätigkeit in vermeintlich typischen Männerdomänen Vorschub leisten soll. Im Gespräch mit Johann Laux 2014 bringt sie ihre damalige Einstellung auf den Punkt: „Ich war nicht in dem Geschäft, um Geld zu verdienen, sondern um einen Kreuzzug für die Frauen zu führen.“ Und so hat das F in ihrem Firmennamen Programm. Es steht für feministic, flexible und freelance. Sie beschäftigt ausschließlich Frauen auf Basis von Projektverträgen und organisiert ihre Firma dezentral. Firmensitz ist das häusliche Büro im Cottage der Shirleys im ländlichen Chesham/Buckinghamshire, wo sie wie auch alle ihre Mitarbeiterinnen von zu Hause aus arbeitet.
Als Stephanie sich selbständig macht, ist sie gerade schwanger geworden. Dass sie sich ausgemalt hat, ihr Unternehmen von zu Hause aus aufzubauen und zu betreiben, schien ihr für eine spätere Vereinbarkeit von Beruf und Familie zudem sehr passend. Zwei Dinge sind ihr klar: Erstens braucht man zur Entwicklung von Software nicht mehr als einen Kopf, einen Stift und Papier, zweitens kam ein Ausstieg aus der Erwerbstätigkeit wegen der Familiengründung für sie nicht in Frage.
Ehemaligen Kollegen von CDL verdankt sie ihre ersten beiden Aufträge. Sie reichen aber gerade mal für ein eigenes Einkommen. Gleichwohl stellt sie nach der Geburt ihres Sohnes Giles erstmals eine Mitarbeiterin auf Freelance Basis ein. Ein paar Wochen später eine Schreibkraft, die halbtags in ihr Cottage kommt. Wie Stephanie war Barbara Edwards junge Mutter. Sie brachte das Kind zur Arbeit mit. Stephanie und Barbara wechseln sich in der Betreuung der Kinder ab. Die Arbeit für den Tag steckt Shirley ihr auf der morgendlichen Runde durch den Briefschlitz, der Ehemann hat bereits das Haus verlassen, er darf nichts von der Berufstätigkeit seiner Frau erfahren.
Zentrale Frage aber bleibt, wie kann sie neue und ausreichend Kunden für Ihr Unternehmen akquirieren? Über Wochen bleiben ihre Versuche erfolglos. Erst als sie – auf Anraten ihres Mannes – beginnt, ihre Firmenpost mit der männlichen Form ihres Namens zu unterschreiben, kommen die ersten Aufträge. Trotz aller Vorbehalte, die Interessenten sofort entwickeln, wenn sie sie persönlich treffen, wenn sie realisieren, dass sich hinter Steve Shirley eine Frau verbirgt, ist ihr Angebot lange ohne Konkurrenz. Ihre ersten Kunden akquiriert sie in den USA, die mehr Sympathien für das Freelancer System von Stephanie Shirley haben. 1964 hat sie auch einen festen Kundenstamm in England selbst. Das Unternehmen wächst langsam, aber stetig und macht sich mehr und mehr im Bereich der Logistik und Prozessgestaltung einen Namen. Sie führt u.a. Gespräche mit GEC über eine Flugzeugsoftware und gewinnt mit British Railways einen prestigeträchtigen Kunden. Zur Minderung des Haftungsrisikos überführt Shirley ihre Freelance Programmers in die Freelcance Programmers Limited.
Das Unternehmen wächst – nicht ohne Rückschläge. Ende 1964 steht das Unternehmen kurz vor dem Aus. Gänzlich unbedarft in Fragen der Geschäftsführung, hat sie kaum noch die nötigen Mittel, um ihre Programmiererinnen zu bezahlen. Ein Unternehmensberater, den sie um Rat bittet, hilft mit einem Kleinkredit aus, strukturiert das Unternehmen und hilft Shirley damit über den Berg.
Shirley rekrutiert ihre Programmiererinnen ausschließlich aus einem Kreis von Frauen, die aus Neigung und Begeisterung ein mathematisches Studium absolviert hatten, auf ihrem jeweiligen Fachgebiet exzellent sind, arbeiten wollen und doch durch familiäre Aufgaben in der Kindererziehung und Pflege gebunden sind. Shirley will dieses Potenzial gezielt nutzen. Die Möglichkeit des Arbeitens von zu Hause aus soll den Frauen und Müttern die entsprechende Flexibilität geben. Darüber hinaus honoriert sie auf Basis des Freelance-Systems ausschließlich das Ergebnis, nicht Anwesenheit oder abgeleistete Stunden. So können die Frauen mit Blick auf ihre familiären zeitlichen Anforderungen ohne Nachteil für die berufliche Entwicklung auch frei über den Umfang ihrer Arbeitszeit entscheiden.
Der Weg der Stephanie Shirley ist kein Zuckerschlecken. Trotz aller Erfolge bleibt sie den Vorbehalten gegenüber Frauen in Technik und Führungspositionen ausgesetzt. Sie hat eine Vielzahl von geschäftlichen und persönlichen Rückschlägen zu verkraften, u.a. die Diagnose, dass ihr Sohn Giles an Autismus leidet, die Überforderung im Umgang mit der Erkrankung, die Herausforderungen bei der Vereinbarkeit von Geschäftsführung und Familie. Größter Rückschlag für ihre Personalpolitik stellt der Sex Discrimination Act 1975 dar. Künftig muss sie auch Männer einstellen.
Insgesamt bleibt sie ihrem Konzept, speziell Frauen mit Kindern in ihrer Erwerbstätigkeit zu unterstützen und eine weitgehende flexible Arbeitszeit- und Arbeitsortgestaltung anzubieten, aber treu. Der Erfolg gibt ihrer auf Frauen- und Familienförderung ausgerichteten Firmenpolitik Recht. Mitte der 80er Jahre beschäftigt ihr Unternehmen rund 1000 Frauen und Männer und erzielt einen Umsatz von 7,6 Millionen Pfund. Nach dem Verkauf ihrer Firma 2007 wird sie zur drittreichsten Frau Großbritanniens.
Nachzulesen ist die Geschichte von Beginn und Wachstum des Unternehmens in der Autobiographie „Let IT go“ von Dame Stephanie Shirley.
[1] Johann Laux (2014): Kreuzzug für die Frauen. In: Die Zeit, 21/2014 vom 15. Mai 2014, S. 34.
[2] Dame Stephanie Shirley (2012): Let IT Go – The Memoirs of Dame Stephanie Shirley, AUK Authors