Der Weg zum Familienpflegezeitgesetz

Den vollständigen Reader zum Familienpflegegesetz mit Literaturliste und Hintergrundinfos zu Vereinbarkeit von Beruf und Pflege können Sie unter Dokumente & Reader als pdf lesen.

Die sozialpolitische Befassung mit dem Thema Pflege nahm unter dem Eindruck des demografischen Wandels erst in den 1990er Jahren Fahrt auf.  Wissenschaftliche Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen zur Entlastung der Pflegenden bzw. zur Erleichterung der Vereinbarkeit von Beruf und Pflege wurden darin allerdings nur am Rande berücksichtigt. Die deutsche Sozial- und Pflegegesetzgebung folgt in erster Linie fiskalischen Zielsetzungen.[1]

Als erste sozialpolitische Maßnahme wurde 1995 die Pflegeversicherung eingeführt. In ihren Grundzügen fokussiert sie in erster Linie die Bedarfe und Rechte der zu Pflegenden, nicht jedoch die Bedürfnisse derer, die zu Hause pflegen. Die Pflegenden selbst blieben lange ungesehen und in ihrer Position weitgehend rechtlos.[2]

Erste gesetzliche Erleichterung auch für pflegende Erwerbstätige sollte das Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge bringen (TzBfG). Es wurde 2000 verabschiedet. Beschäftigte mit Familienaufgaben können seither auf Grundlage der gesetzlichen Regelungen ihre Arbeitszeit bedarfsorientiert verkürzen ohne dies dem Arbeitgeber gegenüber rechtfertigen zu müssen. Teilzeit kann somit auch im Pflegefall unaufwändig beantragt werden.[3]

Allerdings begründet das TzBfG keinen uneingschränkten Rechtsanspruch und gilt nur, soweit betriebliche Gründe dem nicht entgegenstehen (§ 8, Absatz 4) und der Arbeitgeber mehr als 15 Mitarbeiter/innen beschäftigt. (§ 8, Absatz 7) Zudem lässt das Gesetz die Notwendigkeit finanzieller Kompensationsnotwendigkeiten bei familienbedingten Arbeitszeitreduzierungen außer Acht.[4]

Explizit in den Blick genommen wurde die Situation der pflegenden Angehörigen erst drei Jahre später. 2003 initiieren das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSJF) und das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) einen Runden Tisch Pflege mit Geschäftsstelle beim Deutschen Zentrum für Altersfragen. Die hierzu eingeladenen Expert/innen erhielten den Auftrag,  ein nachhaltiges Pflege und Versorgungskonzept zu erarbeiten und im Zuge dessen auch Handlungsempfehlungen zur Stärkung pflegender Angehöriger zu entwickeln.[5]

2005 wurde als Ergebnis der Beratungen die Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen verabschiedet.[6] In ihren acht Artikeln stärkt sie das Recht auf eine selbstbestimmte und würdevolle Pflege. Sie schreibt, so die Einschätzung von Krumbuck/Rumpf/Senghaas-Knobloch einen Ethos fürsorglicher Praxis fest, der  hohe Anforderungen an das Pflegesystem und die Pflegenden stellt und daher geeignet wäre die Diskussion um die Rahmenbedingungen von Pflege sowie der Vereinbarkeit von häuslicher Pflege und Erwerbstätigkeit voranzutreiben. (S. 35) Allerdings bleiben die Unterstützungsbedarfe der Pflegenden auch in der Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen unerwähnt.

2003 setzte das BAMS über den Runden Tisch hinaus eine weitere Sachverständigenkommission unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Dr. Bert Rürup ein. Sie hatte den Auftrag, Vorschläge zur finanziellen Absicherung des Pflegesystems sowie zur Reform der sozialen Pflegeversicherung zu erarbeiten.[7]

Die erarbeiteten Empfehlungen lösten heftige Diskussionen aus. Zahlreich wurde die Verfestigung sozialer und geschlechterspezifischer Ungleichheiten kritisiert. Und in der Tat schrieben die Empfehlungen zur Reform der Pflegeversicherung das überlieferte System der Familienpflege, das die Verfügbarkeit weiblicher Arbeitszeit voraussetzt, weiter fort. Die Mobilisierung des weiblichen innerfamiliären Pflegepotentials galt der Kommission mit Blick auf die drohenden Kosten als unverzichtbarer Garant eines nachhaltigen Pflegesystems, die weitere Förderung der Inanspruchnahme einer familienbedingten Teilzeit als wirkungsvollstes Mittel, das weibliche innerfamiliale Pflegepotenzial langfristig freizusetzen.

Für die Situation der Pflegenden von Bedeutung war und ist die Entscheidung, die Grundprinzipien der sozialen Pflegeversicherung nicht in Frage zu stellen. Das Pflegesystem sollte auch weiterhin auf den Prinzipien der intragenerationellen Solidarität, des Vorrangs der ambulanten vor der stationären Pflege und des Teilkaskocharakters der Pflegeversicherung aufgebaut werden. (Abschlussbericht, S. 17) Da die Reformvorschläge vor allem auf Sicherstellung eines staatlicherseits finanzierbaren Pflegesystems ausgerichtet waren, blieben die innerfamiliär zu bestreitenden Kosten einer Pflege und/oder einer Arbeitszeitreduzierung sowie der damit verbundene Geschlechterbias folgerichtig erneut unbeachtet.

Aufbauend auf den Empfehlungen der Rürupkommission wurde 2007 ein erster Entwurf für ein Gesetz zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung vorgestellt. 2008 wurde er verabschiedet. Die Reform stärkte die ambulante Versorgung und zielte auf Freisetzung des innerfamilialen Pflegepotentials. Mit dem Reformpaket wurden in diesem Sinn 2008 die sogenannte Pflegezeit und der zehntägige Freistellungsanspruch im Pflegenotfall eingeführt.[8]

Mittels Einführung der Pflegezeit erhielten die Arbeitnehmer/innen die Möglichkeit, sich für die Pflege naher Angehöriger bis zu sechs Monaten komplett oder teilweise von der Arbeit frei stellen zu lassen. (Pflege ZG, § 3) Nach Ende der Pflegezeit besteht der Anspruch, auf den Arbeitsplatz zurückzukehren. (Pflege ZG, § 5) Die Pflegezeit ist unbezahlt, also mit Lohnverzicht bzw. Einkommenseinbußen verbunden. Ein Anspruch besteht vergleichbar zum TzBf nur in Betrieben mit mehr als 15 Beschäftigten. Der Arbeitgeber muss zehn Tage vorher informiert werden. Eine Beitragszahlung zur Rentenversicherung wird von der Pflegekasse übernommen, wenn die Pflegeperson mindestens 14 Stunden in der Woche pflegt. Der Kranken- und Pflegeversicherungsschutz wird über die Familienversicherung oder die freiwillige Weiterversicherung mit dem Mindestbeitrag in der Krankenkasse sichergestellt. Pflege ZG § 6 erlaubt den Arbeitgebern zur Vertretung der Pflegezeit die Einstellung befristeter Beschäftigter und eröffnet die Möglichkeit einer vorzeitigen Kündigung, sofern die Pflegezeit vorzeitig beendet wird. Nahe Angehörige im Sinne des Pflegzeitgesetzes sind Großeltern, Eltern, Schwiegereltern, Ehegatten/innen, Lebenspartner/innen, Partner/innen einer eheähnlichen Gemeinschaft, Geschwister, eigene bzw. Kinder, Adoptiv- oder Pflegekinder des/der Ehegatten/in oder Lebenspartners/in, Schwiegerkinder und Enkelkinder.

Unseren Erfahrungen nach wurde die Pflegezeit, da unbezahlt, kaum in Anspruch genommen. Wie alle Vorgängergesetze ließ auch die Idee der Pflegezeit die finanziellen Herausforderungen einer Pflege weitgehend außer Acht. Kompensation für den Verdienstausfall war nicht angedacht. Gleichzeitig war die Pflegezeit uninteressant für all diejenigen, die die Kosten familiärer Pflege ohnedies innerfamiliär arbeitsteilig abfedern konnten. Dies fanden Kohler/Döhner in ihren Interviews durchgängig bestätigt. Darüber hinaus wird die Begrenzung der Pflegezeit auf sechs Monate von den Pflegenden in der Regel als gänzlich unangemessen interpretiert, weil gänzlich unklar bleibt, was passiert, wenn die Pflege länger als die vorgesehenen sechs Monate andauert, der Pflegebedarf bestehen bleibt, während die Erwerbsarbeit wieder aufgenommen werden muss.[9]

§ 2 PflegeZG eröffnet jenseits der Inanspruchnahme einer Pflegezeit die Möglichkeit zur kurzzeitigen Arbeitsverhinderung, um als Angehöriger auf unterschiedliche Pflegesituationen reagieren zu können. Die Freistellungsmöglichkeit soll insbesondere die Beschäftigten unterstützen, deren Angehörige plötzlich pflegebedürftig werden und für die schnell Hilfe organisiert werden muss. Im Rahmen der kurzzeitigen Freistellung haben die Beschäftigten das Recht, bis zu zehn Tagen der Arbeit fernzubleiben, in der Regel ohne Lohnfortzahlung aber unter Fortlaufen der Sozialversicherung. Der Arbeitgeber muss unverzüglich informiert werden. Der Anspruch gilt unabhängig von der Betriebsgröße für alle Arbeitnehmer/innen. (Pflege ZG, § 2) Wiederum mit Blick auf die damit verbundenen Lohneinbußen nutzen die Beschäftigten bei einem kurzfristig eintretenden Pflegefall eher Zeitguthaben oder Urlaubstage oder gehen, sofern beides nicht möglich ist, auch schon mal ins Zeitsaldo.

Dem stetig wachsenden Pflegebedarf entsprechend blieb das Thema sozialpolitisch prioritär.

Bundesminister Rösler ernannte das Jahr 2011 zum Jahr der Pflege, auch sein Nachfolger Daniel Bahr stellte eine umfassende Pflegereform und Neudefinition von Pflegebedürftigkeit in Aussicht. In diesen Kontext fällt auch der Entwurf für das Familienpflegezeitgesetz, das mit dem 1.1.2012 in Kraft getreten ist.


[1] Rumpf, S. 26; Keck/Saraceno, S.4

[2] Reichert, Naegele, S. 1999

[3] Wortlaut des Gesetzes: www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/tzbfg/gesamt.pdf

[4] Keck/Saraceno, S. 48

[5] zu den Zielsetzungen siehe: www.bmfsfj.de/BMFSFJ/aeltere-menschen,did=16378.html

[6] www.pflege-charta.de/die-pflege-charta/acht-artikel.html

[7] Abschlussbericht der Rürup-Kommission: www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/c318-deutsch-fassung.pdf;jsessionid=3680F4F4BCC9EB92CDF00FFAE1CDCBC6?__blob=publicationFile

[8] www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/pflegezg/gesamt.pdf

[9] Kohler/Döhner, S. 82f.


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