Christina von Hodenbergs Buch zeigt ein anderes 68 jenseits der immer wieder erzählten Storylines. Statt als bloßen Studentenprotest und Generationenkonflikt begreift Hodenberg die 68er Jahre als gesamtgesellschaftliche Bewegung, die deutlich früher begann und wesentlich dazu beitrug, die Geschlechterverhältnisse zu politisieren und zu verändern.
„Fast schon stereotyp wird 1968 heute von Historiker*innen vor allem als kulturelle Revolution oder ‚Lebensstilrevolution‘ verstanden“, so die Autorin in einem Interview mit der Tageszeitung Die Welt [1]. In einer Analyse zeitgenössischer Interviews, die Psycholog*innen der Universität Bonn mit Menschen verschiedener sozialer Herkunft, Alters- und Geschlechtszugehörigkeit geführt haben, und die sich auf 3600 Stunden aufsummieren, weitet Hodenberg den Blick auf Antriebskräfte jenseits der NS-Vergangenheit, auf Frauen als Akteurinnen, auf das Private und innerfamiliäre Kommunikationslinien, auf Lebenswelten jenseits der Metropolen Berlin und Frankfurt.
In der Neudeutung der Ereignisse von 68 schätzt Christina von Hodenberg deren Einfluss auf die sexuelle Revolution und die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit geringer ein als langläufig angenommen. Deren Wirkung auf die innerfamiliäre Revolte gegen das Patriarchat hingegen interpretiert sie als deutlich wichtiger. Dabei, so zeigt die Historikerin, gingen die Anstöße hierfür von Frauen aus, die sich seit 1967/68 gegen patriarchale Autoritäten engagierten und zwischenzeitlich in Vergessenheit geraten sind. Hodenberg rückt Frauen wie Helke Sander, Sigrid Damm-Rueger, Gretchen Dutschke-Klotz, Silvia Bovenschen, Florence Hervé und viele andere wieder ins Blickfeld und beschreibt anschaulich deren prägende Rolle in der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Des Weiteren entzaubert Hodenberg den Konflikt zwischen Nazivätern und antifaschistischen Söhnen als Mythos. Denn auch die 68er schwiegen, wenn es um Menschen ging, die man persönlich kannte. Eher als gegen den eigenen Vater, den Nachbarn oder den eigenen Doktorvater erhob man den Vorwurf der NS-Belastung gegen den politischen Gegner an sich. Und nicht selten äußerten Eltern und Großeltern in den Interviews durchaus Verständnis für die Anliegen der aufbegehrenden 68er-Generation.
Hodenbergs Buch bereichert und korrigiert fünfzig Jahre später das landläufige Bild von 68 auf originelle Weise, mutig im Ansatz und glänzend und unterhaltsam geschrieben. Es zu lesen, bereitet gleichermaßen Vergnügen wie es verstört, weil es lieb gewonnene Thesen und Identifikationen hinterfragt.
Christina von Hodenberg (2018): Das andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte. München: Verlag C.H. Beck oHG.