Die Zahl der Erwerbstätigen, die pflegen, steigt kontinuierlich.
Inzwischen trägt bereits jede 17. erwerbstätige Person Verantwortung für einen pflegebedürftigen Angehörigen. Bei den über 45-jährigen trifft dies bereits auf jede zehnte Person zu. Es ist abzusehen, dass ihre Zahl in den nächsten Jahren weiter steigen wird.
Das Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) hat aus diesem Grund multidisziplinäre Expertenbeiträge zu einem Themenreport zusammengestellt. Er gibt einen Überblick über den aktuellen Diskussionsstand sowie Einsichten in die sozio-ökonomischen Kontexte pflegender Angehöriger und bündelt aktuelle Ideen zur Förderung einer pflegesensiblen Unternehmenskultur.
Pflegeversorgungsmix gewinnt an Bedeutung und entlastet die Pflegenden.
Der Report stellt zunächst einmal Veränderungen in der häuslichen Pflege fest. Sie wird in zunehmendem Maße mit verschiedenen Formen professioneller Unterstützung aus den Bereichen ambulanter und teilstationärer Pflege sowie mit haushaltsnahen Dienstleistungen kombiniert. Das Pflegestärkungsgesetz II unterstützt diese Entwicklung.
Die Realisierung diverser entlastender Pflegearrangements hängt jedoch ganz entscheidend von der regional verfügbaren und bezahlbaren Versorgung mit pflegerischen und haushaltsnahen Dienstleistungen, soliden Pflegeberatungsstrukturen und einer alternsgerechten Quartiersentwicklung ab. (S. 6) Der Pflegeversorgungsmix erweist sich jedoch als wesentliche Voraussetzung, die vielfach hohen finanziellen, psychischen und körperlichen Belastungen pflegender (erwerbstätiger) Angehöriger zu mildern.
Bei den Erwerbstätigen dominiert die Pflege eigener pflegebedürftiger Kinder.
Während die klare Mehrheit der Pflegepersonen im Rentenalter sich um die Partnerin oder den Partner kümmert, betreuen Erwerbstätige vorrangig pflegebedürftige Kinder (39 Prozent). Zu je einem Viertel sind es die Eltern/Schwiegereltern bzw. die eigenen Partner*innen. Fast jede zehnte Person unterstützt jemanden außerhalb der Familie.
Jede zweite erwerbstätige, pflegende Person investiert mehr als eine Stunde pro Tag in die Pflege.
Die Auswertung des SOEP (2001-2012) zeigt, dass 48 Prozent der pflegenden Beschäftigten bis zu eine Stunde täglich für die Pflege aufwenden, 52 Prozent sogar mehr als eine Stunde.
Pflegepersonen, die außerhäuslich bis zu eine Stunde für die Pflege ihrer Angehörigen aufbringen, sind mit 77 Prozent etwa gleich oft erwerbstätig wie jene, die nicht pflegen. Auch unterscheidet sich die durchschnittliche Wochenarbeitszeit kaum. (S. 32) Pflegende mit mehr als einer Stunde Pflegeaufwand arbeiten im Schnitt zwischen fünf und sieben Stunden weniger als die übrige Erwerbsbevölkerung. (S. 33)
Erwerbsbeteiligung und Erwerbsumfang sinken mit dem Pflegegrad.
Erwerbsbeteiligung und Erwerbsumfang hängen wesentlich vom Pflegegrad ab. Je größer die Beeinträchtigung, umso geringer die Wahrscheinlichkeit, dass Beschäftigte erwerbstätig bleiben, wenn sie selbst im häuslichen Umfeld pflegen. Bereits mit Eintritt eines Pflegefalls sinkt die Wahrscheinlichkeit, erwerbstätig zu sein, um fünf Prozent. (S. 39) Je länger die Pflege dauert, umso wahrscheinlicher wird der Ausstieg aus der Erwerbstätigkeit. (S. 24) Eher erwerbstätig bleiben pflegende Angehörige, wenn sie ausreichend Unterstützung durch ambulante Dienste erhalten oder ein Wechsel in eine stationäre Einrichtung erfolgt. (S. 44)
Die Pflege Demenzkranker schränkt Erwerbsbeteiligung zusätzlich ein.
Auf Grund der schlechten Datenlage sind keine verbindlich gültigen Aussagen zu treffen. Die letzte repräsentative Zufallsstichprobe zur Situation von Menschen mit Demenz und ihren pflegenden Angehörigen datiert in das Jahr 2006. Die Studie ergab, dass jede fünfte Pflegeperson im Laufe der Pflege aus der Erwerbstätigkeit ausstieg, weil die Versorgung der demenziell Erkrankten zunehmend die uneingeschränkte Verfügbarkeit der Angehörigen erforderte. (S. 49)
Aber selbst leichtere Formen im Anfangsstadium befördern auf Seiten der pflegenden Angehörigen die Einschränkung der Arbeitszeit. Jede zweite Person arbeitet weniger als 30 Stunden pro Woche. Dies ergab eine Umfrage des ZQP unter Erwerbstätigen, die Demenzkranke pflegen. (S. 44)
Pflegeumfang und Arbeitszeitgestaltung variieren zwischen Frauen und Männern.
Unter den 45 – 54-jährigen Erwerbstätigen waren zwischen 2001 und 2012 zehn Prozent der Frauen und sechs Prozent der Männer in die häusliche Pflege von Angehörigen involviert. Unter den 55 – 64-jährigen sind es elf bzw. acht Prozent. (S. 27)
Zugleich variieren die Strategien von pflegenden Frauen und Männern. Pflegende Frauen reduzieren mit ansteigenden Pflegeanforderungen eher die Wochenarbeitszeit. Pflegende Männer tendieren eher dazu, bei einer stärkeren Pflegebelastung ganz aus dem Beruf auszusteigen. (S. 9)
Pflege und Entlastung sind abhängig von Geschlecht, Ort, Status und Qualifizierung.
In der Gruppe der pflegenden Angehörigen befinden sich mehr Frauen, mehr Verheiratete und mehr Personen mit niederen und mittleren Bildungsabschlüssen als in der übrigen Erwerbsbevölkerung.
Zudem leben Pflegepersonen im Vergleich zur übrigen Erwerbsbevölkerung häufiger in Gemeinden mit maximal 20.000 Einwohner*innen und auch häufiger in den neuen Bundesländern. (S. 32) Passend hierzu arbeiten pflegende Angehörige im Vergleich zur übrigen Erwerbsbevölkerung auffallend häufiger in kleinen und mittleren Betrieben bis 200 Beschäftigte. Sie sind seltener als die übrige Erwerbsbevölkerung in größeren Unternehmen tätig. (S. 35)
Pflegende in niederen Lohnklassen sind in der Regel nicht in der Lage, die Arbeitszeit entsprechend zu reduzieren oder sich Entlastung zu kaufen. (S. 154) Zudem sind gerade sie häufig in Betrieben mit festen Schichtsystemen und Vor-Ort-Anforderungen im Einzelhandel oder in Sozialberufen tätig.
So sind die Chancen auf gelingende Vereinbarkeitslösungen und entlastende Pflegearrangements ungleich verteilt. Sie sind am höchsten für Beschäftigte mit einem soliden finanziellen Hintergrund und Beschäftigungen, die eine zeitliche und räumliche Flexibilisierung zulassen. (154)
Betriebliche Unterstützung in größeren Betrieben wahrscheinlicher
Größere Unternehmen sind deutlich häufiger als kleinere speziell auf pflegende Angehörige eingestellt. In einer eigens durchgeführten Unternehmensbefragung fand das ZQP in 43 Prozent der Unternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten spezifische Angebote vor, aber nur in 13 Prozent der Betriebe mit unter 250 Beschäftigten. (S. 87) Dies ergab eine Unternehmensbefragung aus dem Jahr 2014.
Angehörigenpflege geht mit erhöhter physischer und psychisch-sozialer Belastung einher.
Personen, die ihre Angehörigen regelmäßig im Haushalt und in der Alltagsbewältigung unterstützen, erleben Einschränkungen im eigenen Alltag. Die zusätzlichen Zeitanforderungen schränken Zeiten für Erwerbstätigkeit, eigene Familie, Freundschaften und Regeneration ein. Zeitkonflikte werden häufig auf Kosten der eigenen Erholung gelöst. (S. 67) Darüber hinaus ist Pflege generell schwer planbar und birgt erhebliche Zukunftsunsicherheiten. (S. 61) Nicht selten nutzen pflegende Erwerbstätige die Wochenenden und Urlaube zur intensivierten Pflege, für Arztbesuche bzw. zur Erledigung notwendiger bürokratischer oder organisatorischer Aufgaben.
Die Übernahme einer Angehörigenpflege erhöht in diesen Fällen die Wahrscheinlichkeit für depressive Verstimmungen und Stresserkrankungen und belastet die körperliche Gesundheit. Selbstvertrauen und Lebenszufriedenheit sinken häufig. (S. 61)
Pflegende sind oft bereits in der Anfangsphase auf sich allein gestellt und überfordert.
Oft stellt sich bereits oder gerade auch die Anfangsphase der Pflege als besonders belastend dar. Pflegende sind in dieser Anfangsphase häufig auf sich selbst gestellt und brauchen lange, um sich im Dickicht des Pflegesystems, der Hilfsangebote und Unterstützungsmöglichkeiten zurecht zu finden. (S. 142) Diese Suchbewegung, die sich im Pflegeverlauf immer wieder wiederholt, belastet zusätzlich.
Angehörigenpflege bedeutet häufig zusätzliche Mobilitätsanforderungen und Wegezeiten.
Getrennt von den pflegebedürftigen Angehörigen wohnende Pflegepersonen leiden oft unter den zusätzlich entstehenden Mobilitätsanforderungen. Sie müssen in ihrem Alltag (mindestens) zwischen drei Orten pendeln: dem eigenen Haushalt, dem Pflegehaushalt und der Arbeitsstelle. So müssen sie zur faktisch aufgewendeten Zeit für die Pflege vor Ort regelmäßige Fahrzeiten im Tagesablauf unterbringen. (S. 30)
Demenzerkrankungen stellen besonders große Anforderungen an die Pflegenden.
Für alle Pflegenden stellt eine Demenzerkrankung besonders große Anforderungen dar. Bereits ab einem mittleren Krankheitsgrad erfordert sie in der Regel eine Rundumbetreuung.
Besondere Belastungen entstehen für die Pflegenden, wenn sie mit sogenanntem herausfordernden Verhalten konfrontiert sind. Hierzu zählen nächtliche Unruhe, unkooperatives und aggressives Verhalten, ausgeprägter Bewegungsdrang mit Verirren, Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Die Symptome häufen sich im fortgeschrittenen Krankheitsstadium, können aber auch bereits deutlich früher ausbrechen. (S. 47)
Erwerbsbeteiligung von pflegenden Angehörigen kann gleichermaßen be- als auch entlasten.
Die Erwerbsbeteiligung kann für die pflegenden Angehörigen sowohl psychosozialer Ausgleich zur Pflegesituation als auch zusätzliche Belastung sein. (S. 47)
Vereinbarkeitskonflikte am Arbeitsplatz maximieren die pflegebedingten Belastungen.
Positive Erfahrungen am Arbeitsplatz und Zufriedenheit mit der Erwerbstätigkeit können pflegende Angehörige entlasten. Diese entlastenden Effekte sind aber deutlich geringer als die Belastung, die entsteht, wenn es am Arbeitsplatz Konflikte bei der Vereinbarkeit von Beruf und Pflege gibt. Gleiches gilt, wenn Arbeitsbedingungen und Arbeitszeitregime mit den zeitlichen Flexibilisierungsbedarfen pflegender Angehöriger konkurrieren. Vielfach resultieren daraus nicht nur objektive Zeitkonflikte, sondern auch Rollenkonflikte. (S. 67) Besonders problematisch wird im ZQP-Themenreport der wachsende Arbeitsdruck, der Beschäftigungsverhältnisse zusehends prägt, bewertet. (S. 124)
42 Prozent einer Studienbefragung gaben an, dass ihre Erwerbstätigkeit unter der Pflege leide. In einer anderen Studie gaben 48 Prozent an, dass die Pflege zu kurz käme. So entstehen immer wieder Gefühle, weder der einen noch der anderen Anforderung gerecht werden zu können. (S. 67)
Soziales Umfeld, Resilienz und Beziehungsmuster bestimmen über Wohlbefinden mit.
Jenseits der Belastung durch besonders herausfordernde Verhaltensweisen sind diejenigen pflegenden Erwerbstätigen signifikant mehr belastet, die sich vom privaten und sozialen Umfeld wenig unterstützt fühlen und/oder die Übernahme der Pflegeverantwortung negativ bewerten. Überfordernd wirkt sich zudem aus, wenn professionelle Hilfe erst sehr spät in Anspruch genommen wird und die Beziehung zur zu pflegenden Person konfliktär ist. (S. 53f.)
Chancen auf eine gelingende Vereinbarkeit sind multikausal beeinflusst.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Chancen auf eine gelingende Vereinbarkeit variieren stark. Sie hängen von den Handlungsspielräumen in den Unternehmen ab, von der Organisationskultur, der lokalen Infrastruktur, vom Qualifikationsniveau, der sozio-ökonomischen Situation, der sozialen Integration der Pflegenden, den finanziellen Möglichkeiten, der Beziehungsqualität zur zu pflegenden Person und der Pflegemotivation.
Verlängerung der Lebensarbeitszeit wird Zahl der pflegenden Erwerbstätigen erhöhen.
Im Zuge der aktuellen renten- und arbeitsmarktpolitischen Reformen verlängert sich auch die Lebensarbeitszeit. Auswirkungen werden hier vor allem für die weiblichen Beschäftigten erwartet, die noch bis vor wenigen Jahren mit 60 aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind und oft ohne große Zeitabstände häusliche Pflegetätigkeiten übernommen haben. Unternehmen werden künftig deutlich häufiger damit konfrontiert sein, dass ihre Beschäftigten gerade die letzte Arbeitsphase mit der Pflege von Angehörigen vereinbaren müssen. (S. 55)
ZQP (Hrsg) (2016): Themenreport: Vereinbarkeit von Beruf und Pflege. Berlin.