Zur Naturalisierung des Geschlechts

Buchtipp zur Anti-Genderismus Debatte

Die Studie zur Naturalisierung des Geschlechts ist angesichts des neuen Anti-Genderismus hoch aktuell und dringend notwendig.

Natur lässt sich nicht ohne Kultur erschließen und Kultur erscheint selbst häufig als naturalisierte Vorgabe. Dieser Annahme folgend, wollen die Autor*innen dieses Sammelbandes erforschen, wie Geschlecht als naturhaft konstruiert wird oder auch nicht und was die Implikationen der jeweiligen Entwürfe sind. Anlass der Veröffentlichung ist die aktuelle Anti-Genderismus Debatte.

Teil eins des Buches fokussiert die institutionellen, fachwissenschaftlichen und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der Naturalisierung von Geschlecht und Diskriminierung und setzt sich mit Geschlecht in Wissen(schafts)theorien auseinander. Abschnitt zwei setzt sich mit dem Stellenwert von Geschlecht zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kontexten auseinander und stellt neue interessante Lesarten von Geschlecht in historischen und theologischen Quellen vor. Die fünf Aufsätze, die das Buch abschließen, befassen sich mit aktuellen gesellschaftlichen und politischen Diskussionen um Geschlecht und Sexualität. An konkreten Beispielen wird lebendig und nachvollziehbar erklärt, wie die Vorstellung von binär aufeinander ausgerichteten Geschlechtern zu erklären ist und wie sie hinterfragt werden kann. Ein schönes Buch für alle, die sich entemotionalisiert und wissenschaftlich fundiert mit der Idee der Zweigeschlechtlichkeit und ihrer Beharrungskraft befassen möchten.

Der Mehrwert des Buches sei am Beispiel des letzten Beitrages dargestellt, der zudem für alle, die sich mit dem Thema der Vereinbarkeit von Beruf und Familie befassen, wichtige Erkenntnisse bereithält. Zum einen wird darin die Frage aufgeworfen, inwiefern Geschlechtsbenennungen in Sprache und Geschlechterpolitik Stereotype und Rollen weiter zementieren. Zum anderen diskutieren die Autor*innen das Risiko, dass mit dem Verzicht auf Geschlechtsdifferenzierung die gleichwohl für die Geschlechter bestehenden ungleichen strukturellen Bedingungen unsichtbar gemacht werden. Im Ergebnis ihrer Analyse setzen sich Bizan/Kaschuba/Staube damit auseinander, wie die Balance zwischen Sensibilität für geschlechtsspezifisch unterschiedliche Befunde und Dekonstruktion von Geschlechterstereotypen in Kommunikation und Politik zu finden.

Grundsätzlich unterstreichen die Autor*innen die Notwendigkeit, Gender als soziales Klassifikationsschema zu begreifen, über das soziale Realität erst hergestellt wird. In der Tradition von Judith Butler u.a. verstehen sie Gender als Konstrukt, das den Unterschieden erst ihre Bedeutung verleiht. (S. 203) Die Vorstellung von einer gesetzmäßigen Zweigeschlechtlichkeit verwechsele das Ergebnis mit dem Prozess. Die Autor*innen machen dies am Beispiel des weit verbreiteten Bildes von der geschlechtstypischen Berufswahlverhalten konkret.

Sieht man, so die Autor*innen die berufliche Orientierung als langen Prozess der Empfehlungen, Gratifikationen, Anpassungen und Erfahrungen von Passung oder Diskriminierung, sind Berufswahl bzw. -entscheidung als Ergebnis sozialer und geschlechtsspezifischer Differenzierungsprozesse und weniger als Ausdruck gegebener geschlechtsspezifischer Präferenzen zu verstehen. Dabei wirke das Schul- und Ausbildungssystem mit den berufsorientierenden Instanzen, der Arbeitsmarkt wie auch die anhaltenden Rollenvorstellungen und Arbeitsteilungen in Erwerb und Familie gleichermaßen Differenz stiftend. Die Lösung des Dilemmas sehen die Autor*innen nun aber nicht in der gänzlichen Vermeidung kategorialer Benennungen oder die ausschließliche Fokussierung auf das Individuum, weil auch sie allzu schnell das Strukturmoment ungleicher Lebensbedingungen übersieht und folglich banalisiert. (205)

Insofern arbeiten die Autor*innen heraus, dass sowohl die Idee von „wir behandeln alle gleich und machen keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen“ ebenso wie die Vorstellung einer unendlichen Verschiedenheit die Bedeutung von Kontextualisierung, Situiertheit, Kontingenz, habitualisierter Praktiken und Zuordnungsprozesse unterschätzt. Bizan/Kaschuba/Stauber kritisieren, dass mit der Ausblendung der Kontextfaktoren die Vorstellung Raum greife, als wären gelebte Rollen sowie die jeweiligen normativen Orientierungen ausschließlich individualisiert gewählt und entschieden und als würden allein bewusstseinsbildende Maßnahmen und subjektive Aufklärung ausreichen, um das traditionelle Geschlechterverhältnis zu verändern. Entsprechend verkürzt halten die Autor*innen deshalb auch Maßnahmen der Gleichstellungspolitik, die wie in den Programmen zur Gewinnung von Frauen für technische Berufe typisch, vor allem auf Überwindung von Klischees abzielen. Die dahinterliegenden Ordnungen werden aus Sicht der Autor*innen zu selten kritisch in Frage gestellt, wodurch Gleichstellungs- und Diversitätspolitiken grundsätzlich Gefahr laufen, der neoliberalen Individualisierungsstrategie zu zuarbeiten, wonach jeder Mensch, das was er will, aus den gegebenen Chancen machen kann. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Konfliktlagen drohen dann als individuell handhabbar zu erscheinen und verhandelt zu werden.

Als einen zukunftsfähigen Ausweg stellen die Autor*innen das Konzept der Intersektionalität vor. Es ermögliche, die jeweiligen ineinander wirkenden strukturellen Ordnungen, die Kategorisierungen und Vereinnahmungen hervorbringen, zu erfassen und in neuen Vernetzungen verändernd zu wirken. Dies, so führen die Autor*innen weiter aus, führe zu einer selbstkritischeren Beweglichkeit in der Nutzung der Kategorie Geschlecht, statt sie zu verabschieden. Sie plädieren für einen informierten, analytischen und empathischen Blick auf das Zusammenspiel unterschiedlicher Differenzherstellungs- und Diskriminierungsformen, um mit der Veränderung an deren Ursprung anzusetzen.

Daraus ergebe sich dann auch ein anderer Blick auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Denn wenn die Vereinbarkeit vor allem als Weiterbildungs- und Beratungsbedarf von Müttern oder der Zugänglichkeit öffentlicher Kinderbetreuung abgehandelt werde, bleibt die Frage nach der gesellschaftlichen Organisation des Lebens unberücksichtigt. Dies bewerten Bizan/Kaschuba/Stauber besonders problematisch. So bleibe nämlich unberücksichtigt, dass Berufsarbeit anders organisiert werden muss, um Kinder in den Alltag zu integrieren und Sorgearbeit als notwendige gesellschaftserhaltende allgemeine Alltagsarbeit wahrzunehmen. Der Beitrag endet mit der Empfehlung, in einer Denkbewegung zu bleiben zwischen der Kritik an vereinheitlichenden Kategorien und Essentialisierungen auf der einen Seite und der Kritik an einem Außer-Sicht-Geraten von strukturellen Zusammenhängen auf der anderen. (S. 215)

 

Bauer, Georg, Quinn Regina Ammicht, Hotz-Davies, Ingrid (Hrsg.) (2018): Die Naturalisierung des Geschlechts. Zur Beharrlichkeit der Zweigeschlechtlichkeit. Bielefeld (transcript Verlag).


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