Stärkere Individualitätsgerechtigkeit in der Familienpolitik notwendig

bertram_buchDie Generationenforschung im Zusammenhang mit Themen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie bzw. der Entwicklung familiärer Strukturen boomt. Nach Hurrlemanns Studie zur Generation Y untersucht das Buch von Bertram und Deuflhard das Erwachsenwerden zweier weiterer Generationen, der so genannten skeptischen Generation, der zwischen 1910 und 1925 Geborenen sowie der so genannten überforderten Generation, die die Frauen und Männer umfasst, die zwischen 1970 und 1980 zur Welt kamen. Sie werteten hierfür 550000 Fälle pro Jahrgang aus dem Mikrozensus aus.

Aus der vergleichenden Analyse von Bedingungen des Erwachsenwerdens und der Familienbildung leiten Bertram/Deuflhard erneut die Dringlichkeit einer an der Individualität der Familienverhältnisse und dem Wohlempfinden der Familienmitglieder ausgerichteten Familienpolitik ab. Individualitäts- und Diversitätsgerechtigkeit sollten den Kern allen familienpolitischen Agierens bilden.

Im Fokus der Analyse steht die Frage, wie sich das generationenspezifische Aufwachsen auf Berufseinstieg und Familiengründung auswirkt. Erfahrungen und Werdegänge der heute 35- bis 45-Jährigen werden mit jenen ihrer Großeltern verglichen. Musste die Generation der Nachkriegszeit teilweise ohne Kindheit gleich erwachsen werden, so zögert sich das Erwachsenwerden ihrer Enkelkinder oft hinaus. Trotz einer weitgehend sorgenlosen und wohlhabenden Kindheit sowie großen Bildungschancen, werden die Wege in die Berufswelt und folglich auch ihrer Familiengründung zusehends unsicher und unüberschaubar.

Die Studienergebnisse unterstreichen im Kontrast der Generationserfahrungen, dass sich die Vergesellschaftung von Frauen und Männern heute viel schwieriger gestaltet als für die zwischen 1910 und 1925 Geborenen. Trotz der vergleichsweise stabilen äußeren Rahmenbedingungen des Wirtschaftswachstums und des Friedens, der die Kindheit der heute 35- bis 45 Jährigen prägten, gestaltet(e) sich der Übergang in die Adoleszenz herausfordernd. Die Entscheidung für eine Familie und die Organisation familiären Lebens ist heute deutlich schwieriger als dies für deren Großeltern der Fall war.

Die Wege in die Erwerbstätigkeit und auch in die Familienbildung sind kompliziert und uneindeutig geworden. Verantwortlich hierfür sind zum einen ein grundlegender Wertewandel in Sachen Sinnstiftung und Lebensgestaltung, vor allem die Liberalisierung und Individualisierung von Lebensverläufen. Der Übergang von der Industrie- in die Wissensgesellschaft hat ein neues Konzept der Selbstverwirklichung hervorgebracht.

Für die 1910 bis 1925 Geborenen, so zeigen Bertram/Deuflhard, war trotz Kriegserfahrung ein konformer, linearer Lebenslauf die Regel. Auf den Schulabschluss folgte die Ausbildung, auf diese wiederum der Berufseinstieg. Der Berufseinstieg begründete in der Regel die Eheschließung, diese wiederum die Gründung einer Familie. Im Durchschnitt hatte man zwei Kinder. Die Erwerbstätigkeit erfreute sich hoher Stabilität, die Einkommen waren vergleichsweise sicher. Sofern man es sich leisten konnte, blieb die Westfrau während der frühen Familienphase zu Hause. Ggf. verdiente sie in Form einer Teilzeittätigkeit zu. Zudem waren die Beziehungen auf Dauer angelegt und schienen verlässlich.

Heute ist der Weg von der Schule in die Ausbildung und von da in einen unbefristeten Arbeitsplatz bis zur Rente eher zur Ausnahme geworden. Arbeitsverträge sind meist befristet, die früher übliche Verlässlichkeit des Einkommens ist damit oft nicht mehr gegeben. Zudem gestalten sich auch die Ausbildungswege nicht mehr linear. Lebenslange Weiterbildungen ermöglichen ein Quereinsteigen in völlig andere Jobfelder. Auch die Familiengründung ist im Unterschied zu früher nicht mehr auf Dauer angelegt. Während die Familie und die Arbeitsstelle früher zumeist ein festes Gerüst bildeten, ist heute alles offen. Den „richtigen“ Zeitpunkt für eine Familiengründung gibt es nicht mehr. In der Folge, so Bertram/Deuflhard, ist die individuelle ökonomische Sicherung ins Zentrum einer gelingenden Lebensführung gerückt.

Damit ist das aktuelle Grunddilemma für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie klar umrissen: Der gesellschaftliche Wandel hat Bertram und Deuflhard zufolge noch keine Antworten hervorgebracht, wie ein Familienmodell aussehen kann, das mit diesen neuen Selbstkonzepten und der notwendigen und selbstverständlichen Erwerbsbeteiligung aller Männer und Frauen korrespondiert. Es ist unklar, wie in einer solchen Gesellschaft überhaupt ein Raum für Liebe und Fürsorge erhalten bleiben kann.

Folgerichtig schließen die Autor_innen ihre Studie mit Überlegungen zur Neuorganisation von Lebensläufen ab, in denen sich die verschiedenen Anforderungen von Bildung, Beruf, Politik und Familie sinnvoll aufeinander beziehen könnten. Ihre zentrale Forderung lautet: Die Familienpolitik sollte sich am Wohlbefinden von Kindern und Eltern orientieren. Da sich die Lebensbedingungen in den jeweiligen räumlichen und sozialen Kontexten erheblich unterscheiden, muss auch die Familienpolitik entsprechend flexibel auszurichten sein. Denn in einer Gesellschaft, in der es keine spezifischen bzw. normativen Vorgaben der Lebensführung mehr gibt, muss der subjektive Wille von Eltern und Kindern als Orientierung gelten.

Die Autor_innen fahren mit ihren Überlegungen entsprechend fort: Gesellschaft und Arbeitsmarkt müssten sehr viel stärker die Vielfalt und Unterschiedlichkeit von Lebensführung und familialem Zusammenleben akzeptieren und organisatorisch unterstützen. Unabdingbar erscheint den beiden Autoren etwa, Berufslaufbahnen so zu organisieren, dass Unterbrechungen und flexible Umorganisationen des Lebenslaufs möglich sind, ohne dass Frauen wie Männer in der beruflichen Karriere benachteiligt werden. So müsse man sich von Erwartungen verabschieden, wonach berufliche Höchstleistung als Voraussetzung für beruflichen Aufstieg genau in der Lebensphase erwartet wird, in der Familien gegründet und Kinder groß gezogen werden.

In diesem Sinne plädieren die beiden Autoren dafür, Anforderungen an Lebensläufe und Erwerbsverläufe strukturell zu entzerren und neu zu organisieren und die Rush-Hour des Lebens, in dem berufliche Höchstleistung und Familienbildung in einem so engen Zeitfenster von nur wenigen Jahren zusammenfallen, aufzulösen.

Bertram, Hans u. Caroline Deuflhard (2015): Die überforderte Generation. Arbeit und Familie in der Wissensgesellschaft. Opladen u.a. (Verlag Barbara Budrich)


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