Die hier zusammengestellten Essays basieren auf originellen Text- und Bilddokumenten. In der historischen Kontextualisierung geben sie Einblicke in die Vorstellungen und Ausdrucksformen von Geschlecht früherer Zeiten. Die Analysen machen nachvollziehbar, wie eben diese vergangenen Vorstellungen und Ausdrucksformen von Geschlecht zum Teil in die Gegenwart hineinwirken und der gezielten Veränderung bedürfen. Dies wird besonders deutlich an der Geschichte des Feminismus.
Gisela Bocks Beitrag stellt mit der „Erklärung der Rechte der Frau“ von Olympe de Gouges ein Schlüsseldokument des europäischen feministischen und politischen Denkens vor. Gouges Schrift ist Kritik an der „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ aus dem Jahr 1789, also dem Jahr der französischen Revolution. Sie ist somit staatsbürgerlicher Gegenentwurf zu einem Staatsverständnis, das Frauen als politische Subjekte ausschließt und negiert. Besonders interessant zu lesen sind die Passagen, in denen Gisela Bock Gouges argumentative Winkelzüge erläutert, mit denen die politischen Teilhaberechte von Frauen begründet werden.
Bock zeigt, wie Gouges die damals gängigen Tiraden, denen zufolge Frauen wegen ihrer weiblichen Rollen aus der Politik ausgeschlossen sein müssen, auf den Kopf stellt. Nicht obwohl, sondern eben weil sie Frauen sind, repräsentieren sie die Nation. Olympe weist die Geschlechterdifferenz nicht etwa zurück, sondern macht sie gleichsam zur Basis der Menschenrechte auch für das weibliche Geschlecht.
Olympe de Gouges war ihrer Zeit weit voraus. Nach ihrem Tod geriet sie schnell in Vergessenheit. Wegen ihrer öffentlichen Kritik an der zentralistischen und terroristischen Politik von Robespierre und weil sie ein „Staatsmann“ sein wollte, wurde sie nur kurz nach Veröffentlichung ihrer Erklärung der Frauenrechte hingerichtet. Gisela Bock beschreibt Olympe de Gouges als eine der ersten Vordenkerinnen des Feminismus schlechthin. Sie war eine der ersten, die Menschenrechte als Frauenrechte und Frauenrechte als Menschenrechte konzeptionell begründet hat.
Die weiteren Beiträge spannen den Bogen über „Feministinnen in der europäischen Friedensbewegung“ des ausgehenden 19. Jahrhunderts und die „Ehekritik“ der Hedwig Dohm als Gesellschaftskritik aus dem Jahr 1909 hin zur Europäische Frauenfriedensbewegung und zum lesbischen Aktivismus in Ost-Berlin der 198oer Jahre. Frauenarbeit, Männlichkeiten und Körperlichkeit/Sexualität sind weitere Themenkategorien des Sammelbandes. Was der Kassenschlager „Rote Lippen soll man küssen“ mit europäischen Schönheitspraktiken um 1960 zu tun hat oder wann und wo die Frauenhose zur Normalität wurde, lässt sich an Hand der Quellen und Beiträge sehr gut nachvollziehen.
Der Band zeichnet die Entwicklung der europäischen Geschlechterordnung(en) der Neuzeit auf sehr gelungene Art und Weise beispielsreich und klug nach. Er verdeutlicht ihre Mannigfaltigkeit wie auch ihre Widersprüchlichkeit. Er sensibilisiert, wo überall Geschlecht also Ordnungskategorie wirksam wird, wie Geschlecht konstruiert wird und die Arbeit für mehr Gleichberechtigung und Chancengleichheit noch lange nicht am Ende ist.
Bühner, Maria und Maren Möhring (Hrsg.) (2018): Europäische Geschlechtergeschichten. Europäische Geschichte in Quellen und Essays Bd. 4. Stuttgart. (Franz Steiner Verlag)