Historisches Streiflicht: Ruhestand als Lebensstil

Die immer wieder aufflammende Diskussion um das Renteneinstiegsalter und den Übergang in den Ruhestand wirft die Frage auf: wie ist Ruhestand als solcher eigentlich entstanden, mit welchen Zielen, unter welchen Rahmenbedingungen und wie hat sich das Thema bis heute entwickelt. Die historische Beschäftigung mit dem Thema Ruhestand kann nach unserer Einschätzung die Diskussion um das Renteneintrittsalter um einige interessante Aspekte bereichern.

In West- und Mitteleuropa war der Ruhestand, d.h. der arbeitsfreie Lebensabend, bis ins 19. Jahrhundert hinein fast völlig unbekannt. Wenn die Körperkräfte nachließen, reduzierte man die Arbeit entsprechend. Das Modell der lebenslangen, extensiven Arbeit war maßgebend. Zudem war die Wahrscheinlichkeit, noch in relativ jungen Jahren zu sterben, relativ hoch, so dass sich die Frage nach der Versorgung bei Altersschwäche oder Invalidität für weite Teile der Bevölkerung gar nicht stellte. Die Altersversorgung war private Angelegenheit und wurde mittels Naturalversorgung und Altenteilen auf dem Lande oder – wenn überhaupt – über Lebensversicherungen, Wertpapiere und Sparbücher oder Immobilien abgesichert. Wurde man dann doch wider Erwarten alt und invalide und ohne Hilfe von Angehörigen, konnte man ja auf öffentliche Hilfe rechnen in Form der Armenhilfe. Sie war schon seit Jahrhunderten letzter Rettungsanker, deckte aber lediglich einen Minimalbedarf. Die Inanspruchnahme von Armenhilfe oder der Rückzug aufs Altenteil minderte in dieser Zeit das öffentliche als auch innerfamiliale Ansehen. [2]

Der Historiker und Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Josef Ehmer stellte 2011 heraus, dass sich Ruhestand inzwischen auf zweierlei Weise verstehen lässt. Er kann sowohl eine Lebensphase als auch einen Lebensstil beschreiben.

In den westlichen Gesellschaften hat sich die Vorstellung vom Ruhestand als Lebensstil während der letzten 100 Jahre zum Leitmodell eines modernen Lebens in westlichen Gesellschaften entwickelt. Ruhestand ist in diesem Verständnis charakterisiert durch fehlende, maximal eingeschränkte  Erwerbstätigkeiten bei gleichzeitiger hoher Vitalität, Aktivitätsbereitschaft und fortbestehender Leistungsfähigkeit der Seniorinnen und Senioren.

Dadurch wurde der Zeitpunkt, an dem man die tatsächliche Arbeitsunfähigkeit erreichte, von dem  Zeitpunkt entkoppelt, an dem man sich zur Ruhe setzte. Arbeitsunfähigkeit und Vergreisung wurden mehr und mehr zu Kennzeichen eines Lebensalters, das dem Lebensabschnitt Ruhestand als viertes und letztes Lebensalter in Form der Pflegephase folgt. Noch im 19. Jahrhundert schlug der Tod zumeist rasch zu, die Pflegephase ist so gesehen historisch weitgehend neu.

Die Beförderung des Ruhestandes zum Lebensstil war gleichermaßen sozialpolitisch wie ökonomisch begründet.  Die Verabschiedung des Gesetzes für die Alters- und Invalidenversicherung 1891 zählt zu den wichtigsten sozialpolitischen Errungenschaften des deutschen Kaiserreiches unter Bismarck. Es gewährleistete für alle Arbeiterinnen und Arbeiter, die die Altersgrenze von 70 Jahren erreicht hatten,  erstmals eine Rentenzahlung ohne den aufwendigen Nachweis der Arbeitsunfähigkeit. Ebenso war damit erstmals auch eine Altersgrenze definiert, ab der man aus dem Erwerbsleben ausscheiden konnte und mit deren Erreichen man Ansprüche auf Unterstützung und materielle Sicherheit jenseits der eigenen Erwerbstätigkeit erwarb. [1]

Damit war die Möglichkeit einer von Arbeit ganz oder überwiegend befreiten und trotzdem materiell abgesicherten Lebensphase begründet, auch wenn in den 1890er Jahren noch kaum ein Arbeiter oder eine Arbeiterin 70 und mehr Jahre alt wurde. Statistisch gesehen war der durchschnittliche Arbeiter bereits 10 Jahre tot, bevor die Rente fällig wurde. Die Einführung der Rente war folglich mit keinem finanziellen Risiko verbunden. 1871/80 betrug die Lebenserwartung der Männer (Frauen) im Deutschen Reich 35,6 (38,4) Jahre, 1901/10 waren es 44,8 (48,3) Jahre. Die Rente wie auch der Rest der Sozialversicherung sollte an Stelle der diskriminierenden Armenhilfe treten und die invaliden Arbeiter mehr in die Gesellschaft integrieren. [2]

Mit Eintreten von Öl- und Wirtschaftskrisen und der damit verbundenen Massenarbeitslosigkeit senkte man mehrmals in der gesamten industrialisierten Welt das Regelpensionsalter. Man erhoffte, hierdurch Arbeitsmärkte zu entlasten und die Arbeitslosigkeit abzumildern. Die Älteren wurden mit mehr oder weniger Druck in den Ruhestand gezwungen. Das beförderte in der Folge die sukzessive Senkung des Renteneintrittsalters. [2]

Die Vorstellung einer arbeitsfreien Lebensphase im Alter, die nicht durch nachlassende Kräfte oder durch Verlust des Arbeitsplatzes erzwungen wurde, fand anfangs jedoch keineswegs allgemeine gesellschaftliche Akzeptanz. Widerstand, so erläutert Josef Ehmer in seinen Studien weiter, gab es bei betroffenen älteren Menschen aller sozialer Gruppen. In den öffentlichen Diskussionen setzte man der Idee vom Ruhestand als Lebensstil die Idee der Arbeitsethik aber auch demografische und ökonomische Argumente entgegen. Von Anfang an standen den sozialpolitischen Errungenschaften auch Befürchtungen entgegen, dass die neu geschaffenen Leistungen des Sozialstaats unter den Vorzeichen von Geburtenrückgang und steigender Lebenserwartung langfristig nicht gegenfinanziert werden können und sich der Sozialstaat selbst aushebeln könnte. [1]

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) kam in einer aktuellen Studie zu dem Schluss, dass angesichts der steigenden Lebenserwartung Regierungen das Renteneintrittsalter schrittweise anheben werden müssen, wenn sie sicherstellen wollen, dass die nationalen Rentensysteme zugleich angemessen und finanzierbar bleiben. [3]

(Elisabeth Mantl)

Quellen und zum Weiterlesen:

[1] Josef Ehmer (Hrsg.) (2011): Ruhestand. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften. Jg. 22/3.

[2] Peter Borscheid: Vom verdienten zum erzwungenen Ruhestand.
Wirtschaftliche Entwicklung und der Ausbau des Sozialstaates
http://www.fes.de/fulltext/asfo/00224003.htm

[3] Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD): „Pensions Outlook 2012“ http://www.oecd.org/berlin/publikationen/oecdpensionsoutlook2012.htm


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